Leben und Werk von Helmuth Plessner

In den Jahren 1999 bis 2000 schrieb Christoph Dejung eine Biographie von Helmuth Plessner.



Das Werk ist jetzt erschienen unter dem Namen

Helmuth Plessner
Ein deutscher Philosoph
zwischen Kaiserreich und Bonner Republik



im Verlag Rüffer&Rub in Zürich





Zusammenfassung

Christoph Dejung Helmuth Plessner / Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Repunlik


Dieses Buch ist die Lebensbeschreibung eines deutschen Philosophen ­ vielleicht des bedeutendsten deutschen Philosophen im 20. Jahrhundert. Zugleich will es unser Wissen über deutsche Geschichte und deutsche Philosophie in dieser schrecklichen Zeit überprüfen und ergänzen.

Eine Biographie ist nur schwer zusammenzufassen; ihr Wert besteht einerseits in der Weite dessen, was sie erzählt, andererseits in der Art, wie sie erzählt. Der Inhalt der Kapitel, der abwechselnd dem äußeren Leben und dem geschriebenen Werk folgt, also zwei Entwicklungen als die eine Entfaltung einer einzigen Existenz aufzuzeigen versucht ­ weder erklärt das Leben das Werk, noch das Werk das Leben ­ ist der folgende:

1. Plessner, aus einem Arzthause mit einem konvertierten Vater und einer protestantischen Mutter stammend, wuchs als überbehütetes Einzelkind in der Kurstadt Wiesbaden auf. Schon als Schüler faszinierten ihn die natur-geschichtlichen Erkenntnisse, die zu je-ner Zeit als »biogenetische« und »psychogenetische« Grundgesetze die Abstammungslehre umrankten. Er glaubte, dass die modernen Naturwissenschaften zu einer Grundlegung für eine positive Erkenntnis vom Menschen und seiner Geschichte werden könnten. Folgerichtig wandte er sich nach zwei Semestern Medizin in Freiburg dem Studium der Naturwissenschaf-ten in Heidelberg zu.

2. Plessners Charakter enthielt jenes »Vielversprechende«, das Tho-mas Mann in »Königliche Hoheit« als Gabe des Verwöhnten schildert, dann ein Ringen um die Anerkennung »außerhalb der Schule«, das Wagner in »Die Meistersinger« preist und dem beckmesserischen Können der braven Schüler vorzieht, dann eine lange Karriere als »Bote, der die Liebe eigentlich verdient«, so wie ihn der »Rosenkavalier« von Hofmannsthal und Strauss verkörpert, der freilich auch rohe Gesellen anzukündigen hat; schließlich findet er seine Vollendung in der Stellung als »kritischer Spiegel« für die verirrte Gesellschaft nach dem Muster des »Hauptmanns von Köpenick« von Carl Zuckmayer.

3. Das äußere Leben des Studenten verlief enttäuschend. Kriegsdienstuntauglich kam Plessner in ein weitgehend verweiblichtes Studium zu Husserl nach Göttingen, wo er seinen Meister finden und von sich überzeugen woll-te. Beides miss-lang: Husserl war unvergleichliches Vorbild aber über-haupt keine Hilfe. Er nahm keinen Anteil an Plessners Versuch, die Phänomenologie an Fichte zu messen, reagierte auch nicht, als sich der Schüler, angeregt durch Husserls Konstitutionserforschung, mit Kant zu beschäftigen begann. Dass sich Husserl dem Idealismus zugewandt hatte, erweckte allerdings den Unwillen Plessners; in der Dissertation meinte er aus kantischen Studien die Unhaltbarkeit des phänomenologischen Ansatzes zu erweisen, weshalb er in Erlangen bei einem Neukantianer doktorier-te. Aufgewühlt durch Niederlage und Revolution, habilitierte er sich mit einer Gesamtbegründung des Kantischen Systems in Köln, wo eine lange, äußerlich erfolglose, aber schriftstellerisch reiche Karriere als Privat-do-zent und Titularprofessor begann.

4. Das frühe Werk beginnt mit einer Frechheit des einundzwanzigjährigen Kandidaten der Zoologie; wenn schon sein Lehrer Driesch als Naturwissenschaftler einen philosophischen Beitrag zur Logik der Forschung vorlegte, so hielt auch er sich für befugt, etwas Ähnliches zu tun, und zwar mit einer Schrift, die die beneidenswerte Harmonie erklären wollte, in der sich das wissenschaftliche Wissen als kollektive Leistung in einem an und für sich unendlichen Gang aufbaut (»Die wissenschaftliche Idee«, 1913). Windelband begrüsste das Buch und wollte es als Dissertation an-nehmen, doch glaubte Plessner, zuerst tiefer in die Philosophie eindringen zu müssen. Dies tat er mit der Dissertation (»Krisis der transzen-den-talen Wahrheit im Anfang«, 1918) und der ungedruckten Habilitationsschrift (»Untersuchungen zur Kritik der philosophischen Ur-teils-kraft«). Als Privatdozent legte er danach eine Untersuchung vor, die den menschlichen Geist aus seiner Abspaltung von der Sinnlichkeit zu erlösen und auf seine Leistungsfähigkeit hin zu verstehen suchte (»Die Einheit der Sinne«, 1923). Anschließend schrieb er einen ersten Ent-wurf zu einer politischen Philosophie(»Grenzen der Gemeinschaft«, 1924).

5. Was Plessner als Dozent in Köln erlebte, kam einer fortgesetzten De-mütigung nahe. Trotz seiner reichen Publikationen ­ oder vielleicht gerade ihretwegen ­ lehnte man ihn in der Zunft ab. Alle Versuche, einen Lehrstuhl zu ergattern, zerschlugen sich. Im mündlichen Vortrag war er zwar oft erfolgreich, so bei seinen Studenten, auf Kongressen, auf Vortragsreisen und in fachlichen Kolloquien. Doch was er geschrieben, las fast niemand, und selbst das eigentliche Hauptwerk wurde sofort nach seinem Erscheinen übersehen. Besonders unglücklich war für ihn die Nähe zum Vita-listen Hans Driesch und zum fördernden Max Scheler, der in einer Phase der Entfremdung selbst nicht ganz unschuldig war am haltlosen öffentlichen Gerücht, Plessner sei nur sein Banalisierer und gar Plagiator. Die treue Freundschaft des älteren Philosophen Nicolai Hartmann brachte ihm zwar eine minimale Sicherung seiner Position, aber die Beruhigung war nicht von Dauer; Hitlers Machtergreifung fegte ihn wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Amt. Selbstverständlich ging mit ihm seine zweite politische Arbeit unter (»Macht und menschliche Natur«, 1931), die als eine Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus ebenso gut wie gegen die Philosophie Heideggers verstanden werden muss.

6. Das Hauptwerk (»Die Stufen des Organischen und der Mensch«, 1928). Es enthält aus der Definition der Lebewesen heraus eine Philoso-phie des Menschen, für die er, mit Scheler konkurrierend, den Titel »An-thro-pologie« beanspruchte. Lebewesen sind positional, das heißt, sie neh-men einen Platz ein. Mit der zentrischen Positionalität der Tiere gehören ihre Umwelten zusammen, wie sie vor allem Jakob von Uexküll entdeckt und definiert hatte. Der Mensch ist ein Tier, zeichnet sich aber darüber hin-aus durch eine Doppelstellung aus, die zur Definition als »exzentrische Positionalität« zwingt; darum ist er nicht nur sich selbst hat er nicht nur Um-welt, sondern hat sich auch und hat »die Welt«. Sein ruheloses Wesen, das in natürlicher Künstlichkeit, vermittelter Unmittelbarkeit und in dem ihm allein gebührenden utopischen Standort besteht, lässt ihn als eine spe-zielle (aber gewiss nicht als »die höchste«) Form des Lebens erscheinen.

7. Plessner wollte eigentlich nicht emigrieren, zu sehr liebte er die Heimat, und zu sehr hoffte er, der Nationalsozialismus werde bald zusammenbrechen müssen. Durch die Notgemeinschaft der Wissenschaft sollte ihm eine Professur in Istanbul vermittelt werden, aber das war eine Illusion. Der Freund Buytendijk eröffnete ihm dann Groningen, wo er zuerst eine Forscherstelle als Rockefeller Stipendiat, dann eine Asisstenzprofessur in Philosophie und schließlich für kurze Zeit eine Soziologieprofessur erhielt. Doch mit der Eroberung der Niederlande durch die Deutschen geriet er erneut unter Berufsverbot, das er in Utrecht aussitzen wollte, zuletzt sogar in direkte Lebensgefahr, der er im Untergrund von Amsterdam entging.

8. Auch im Zeitpunkt des herrschenden Unheils schrieb Plessner weiter; das erste bedeutende Werk galt dem Unheil selbst; es erhielt 1958 den erfolgsichernden Titel: »Die verspätete Nation« (1935). Dann wandte er sich dem Zusammenhang von Hominität und Humanität zu und trat in vielen Aufsätzen und Reden dem möglichen zynischen Verständnis der Anthro-po-logie entgegen. Endlich gelang es ihm auch, seine letzte große philosophische Arbeit in Bern zu veröffentlichen (»Lachen und Weinen«, 1941). Ein bis heute unveröffentlicht gebliebenes Manuskript gibt seiner Position endgültigen Ausdruck und kann zugleich als Vorbereitung seines Spät-werks gelten, das nach einer langen soziologischen Phase folgen sollte (»Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie«).

9. Die Befreiung brachte ihm eine erste Rückkehr nach Groningen, wo er den Lehrstuhl der Philosophie erhielt. Aber seine Sehnsucht war zum Erstaunen nicht nur der holländischen Freunde die Rückkehr ins darniederliegende Deutschland. In Hamburg und Bremen trat er noch als ausländischer Gelehrter vor seine deutschen Kollegen, und verlockenden Ange-boten zog er den Lehrstuhl für Soziologie einer juristischen Fakultät vor, weil dieser bedeutete, dass er nach Göttingen kommen durfte. Nicht als Philosoph, sondern als Vertreter der zeitgemäßesten Sozialwissenschaft wollte er nun wirken. Keine Nebensache war die kommissarische Verwaltung der bald berühmt werdenden Schule von Horkheimer und Adorno in Frankfurt.

10. Nur kleinere Schriften schrieb der Professor der Soziologie, die in Sammelbänden zusammengefasst wurden (»Zwischen Philosophie und Gesellschaft«, 1953; »Conditio humana«, 1961; »Diesseits der Utopie«, 1966). Als Auseinandersetzung mit der Zeit der Adenauerschen Restauration gebührt ihnen weiter Beachtung. Während Plessner in der Sozialwissenschaft kühne und mutige Widerworte gegen den Zeitgeist fand, spielte er in der Philosophie seine eigene Sache lange Zeit herunter, hoffend, dass andere seiner Anthropologie, die ja als Werk nun schon lange vorlag, zum Durchbruch verhälfen.

11. Sensationell nun seine Erfolge, die vielleicht weniger dem Philosophen galten als dem Vertreter eines anderen Deutschland, der er auf glaubwürdigere Weise war als so mancher aus der »inneren Emigration«. In zehn Jahren (seinem siebenten Lebensjahrzehnt) wurde er Mitglied der Akademien von Groningen und von Göttingen, Dekan und Rektor der Georgia Augus-ta, Präsident der deutschen Gesellschaften für Philosophie und für Soziologie; vielfache Auszeichnungen kamen dazu. Am wichtigsten waren ihm nun Arbeiten, die er betreute, zur Soziologie der Wissensgesellschaft; nach der Emeritierung konnte ihn nichts davon abhalten, in Enschede, Tü-bingen, New York und Zürich weiter zu lehren, so lange man ihn ließ. Er holte nach, was er entbehrt hatte.

12. Langsam kehrte Plessner als philosophischer Autor ins Bewusstsein zurück. In den Sechzigerjahren kam neben andern Neudrucken das Hauptwerk wieder ans Licht. Dann erschien der Sammelband (»Philosophische Anthropologie«, 1970) der die Lebendigkeit seines Denkens in besonders schöner Weise dadurch belegte, dass nun auch eine Neufassung der »Einheit der Sinne« gewagt werden konnte. Weitere Aufsätze, zwischen Kantischen und anthropologischen Begriffen oszillierend (»Ungesellige Geselligkeit« ­ »der kategorische Konjunktiv«), bewiesen, dass der Neuansatz der Zwanzigerjahre noch immer nicht zum Ende gekommen war und weitere Früchte trug.

13. Nach der Verleihung der Ehrendoktorate von Groningen und Zürich, nach später Reise zu einer plötzlich wichtig werdenden Vergangenheit in Israel wurde es still um Plessner. Von seiner Frau Monika betreut, hatte er ein langes, einsames und duldendes Alter. 1985 starb er in Göttingen.


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