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Heimatkunde
oder Geographie der Seele




1. Ausgabe - 2. Ausgabe



Dreizehn Erzählungen aus der östlichen und nördlichen Schweiz (ohne Jahr; 1991). Mit einer eigenen Macht sprechen Orte zu uns, die sich mit bedeutungsvollen Erinnerungen verschmolzen haben. Diese dreizehn Erzählungen sind als Versuch, eine für die Geschichtswissenschaft taugliche Sprache zu entdecken, entstanden. Geprüft wird, ob eine Erinnerungssprache möglich sei, die den Ansprüchen objektiver Überprüfung genügt und volle subjektive Transparenz behält. Die Geschichten gehen auch dem Zusammenhang von Raum und Vergangenheit nach; sie gelten dem mythischen Zauber einiger Plätze in der Nord- und Ostschweiz, sind in ihrem Zusammenhang ein Hadsch oder eine Hadesfahrt in die eigene Seele.

Sie finden hier eine neuere Fassung der Geschichte »Hettlingen« in vollem Umfang.


Inhaltsverzeichnis

Traun ­ Tössertobel ­ Thurwies ­ Heiligberg ­ Hettlingen ­ Steinenkreuz ­ Wildensbuch ­ Zürichberg ­ Uetliberg ­ Comino ­ Rämismühle ­ Diepoldsau ­ Kyburg


Hettlingen

neuere Fassung

Wie könnte jemand, während er ein Auto steuert, wahrnehmen, dass es ausser ihm noch andere Seelen gibt, strömende Subjektivitäten, die so wie er die ganze Welt in sich enthalten? Aber dort, wo die Hauptstrasse durch das Dorf geschlagen ist wie eine Enterbrücke, leicht abfallend gegen Süden, rechneten die Fahrer mit Fremdseelischem, noch spät am Abend und an verkehrsarmen Sonntagen.
Es steckte in einem grauen Kasten eines Radargerätes.

Rechts neben dem Fenster hing die grosse Küchenuhr; ihre Zeiger liessen sich leicht verstellen, die alte Frau musste sich kaum strecken. Sie wurde es nicht müde, ratternd neue Zeiten einzustellen. Der Junge stellte sie nach, mit seinen Orangenschnitzen auf dem Teller, denn er wurde gern gelobt. Schon kannte er die Uhr.
Dann erzählte sie, wie im Norden über dem Lindberg, genau aus diesem Fenster habe sie es gesehen, die Blitze an jenem Morgen sichtbar waren, als sie Schaffhausen bombardierten. Nicht absichtlich. Der Junge bedauerte die ohne Absicht getroffenen Menschen von Schaffhausen sehr.

Einer sagte, das sind hässliche Häuser, aus denen ihr kommt. Dies erstaunte den Jungen. Er war noch lange nicht alt genug, dass er seines Vaters Haus hätte für hässlich erkennen können. Immerhin wusste er, sein Vater war Hausmeister.
Der Nachbarjunge sprang über den Gartenzaun, und dann fragte er: Bin ich gut gewesen?
Der Nachbarjunge war schon in Iberg gewesen, und war doch ein Jahr jünger. Die Ungerechtigkeit war nicht auszugleichen durch Realität, etwa durch den Hinweis, wie bedeutungslos Iberg sei. Von da war ein Fuhrwerk gekommen, und der Nachbarjunge war damit gefahren, angeblich bis nach Iberg.

Der Berg aus Holzscheitern, der von den Fuhrwerken abgeladen wurde, war schon vor dem Haus immens. Durch das Kellerfenster hinuntergeworfen, türmten sich die Scheiter anschliessend bis an die Decke; ein Berg; ein Chaos, das Kosmos werden musste.
Der Vater verstand diese Arbeit nicht, und liess sie die Kinder erledigen. Aber der Vater des Nachbarjungen erklärte ihnen, wie es gemacht wird. Er konnte alles, auch wenn er in den dünnsten Hosen dastand, eine Brissago stin-kend im Mund. Die Scheiterbeige muss mit einigem Abstand von der Mauer angefangen werden; flache Holzstücke sind für den Eckturm wegzulegen; dann soll die Beige gegen die Wand wachsen, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Neigt sie sich zu sehr, so trifft sie auf die Mauer, bevor wir oben sind, und dann sind die oberen Scheiter nicht sicher zu legen; neigt sie sich zu wenig, so kann sie nachher leicht bauchig werden, und ihr Sturz ist unvermeidlich. Tu die Augen auf, Junge! Du musst sehen, wie die Scheiter passen; das sieht man, wenn man genau hinschaut. Oder besser noch, probier jedes aus, lass es nicht liegen, bevor es so liegt, wie du es haben wolltest.
Im Winter, wenn es früh Nacht wurde, war das Arbeiten im Keller schön. Das hohe Fenster war ein dunkles Loch, und man sah nicht mehr, dass man unter der Erde war. Nur der Nachbarjunge rief manchmal herunter: Soll ich den Vater holen?

Wer den Rosenberg überquert, kommt durch ein ganz kleines Dorf, an dessen nördlichem Ausgang plötzlich die ganze Ebene vor ihm liegt. Es ist eine Ebene, so gross wie diejenige der Stadt, aber sie hat kaum ein Haus. Riedland. Nördlich liegt ein Hügelzug, der einige Häuser trägt, und das Dorf Hettlingen. Die Strasse geht ganz genau mit dem Meridian, und einen Moment lang sieht man sie vor sich liegen wie einen Faden, den jemand mit zwei Pflöcken gespannt hat.
Für ein Kind, das in der Stadt lebte, war diese Ebene die Welt. Dass sie von Geistern bewohnt war, konnte man sehen. Dass auf ihrer andern Seite Deutschland, Schaffhausen, Bombenkriege und wilde, die Mädchen ängstigende nordafrikanische Soldaten seien, musste man wissen; aber die Ebene selbst war durch ihre Weite ebenso bedrohlich wie alles, was jenseits sein konnte.
Weiter unten in der gleichen Ebene liegt ein Dorf, das man nicht sehen konnte, von dem das Kind aber wusste. Hier war eine Kanonenkugel in der Kirchturmmauer übriggeblieben, von den Russen, die hier einmal, gegen die Franzosen kämpfend, vorbeigekommen waren.

Wenn die Kinder beim Bäcker vom grossen Seidenpapier sechs Bogen erbetteln konnten, dann bauten sie einen Heissluftballon. Draht, Watte und Sprit hatten die beiden Zahnarztsöhne immer. War der Kasten fertig, dann rannten ganze Haufen von Kindern hinter ihm her durch die Strassen der Stadt. Er stieg meist nur etwa bis zur Höhe der Dächer, danach erlosch seine Flamme, und er kehrte zurück. Und fast immer geriet das fliegende weisse Ding beim dritten Flug in Brand. Das Gestell stürzte dann mit einigen Fetzen zur Erde; aber grosse Teile des Seidenpapiers lösten sich auf in brennende Funken. Wenn dann kleine schwarze Stücke übrig waren, schwebten diese auch nieder. Die Kinder rannten wild durcheinander und versuchten, die schwarzen Kohlesegelchen zu fan-gen. Dazu riefen sie wie ausser sich vor Freude:
Hitler, Hitler, Hitler!

Der Vater schätzte die Strasse nicht. Er führte einen stets weg von der Strasse, um an ein Ziel zu gelangen. Er warnte davor, die Strasse zum Verweilen zu nutzen. Er meinte, man solle wissen, wohin man wolle, zur Kirche, oder ins Büro, oder in den Wald, oder zum Bahnhof. Man soll wohin gehen in der Welt, aber die Oeffentlichkeit meiden. Sie ist nicht gut, nicht so, wie sie sein sollte, begreift nicht, dass das Unheil vom Weintrinken kommt, auch heute nicht, nach dem Krieg.
Dabei war damals die Strasse den Kindern noch offen; man konnte sie ihnen nicht verbieten, denn wo sonst sollte man Ball spielen mit den Nachbarkindern?

Als das Holz kam, dachte der Junge noch an nichts anderes, als die bevorstehenden Schwierigkeiten im Keller. Er sah den Berg von Scheitern, die Pferde, und dann den schönen leeren Wagen.
Man liess ihn mitfahren. Dass die Nachbarkinder nach Iberg gefahren waren, musste man anerkennen. Der Junge durfte allerdings nicht allein mit; die Schwestern sollten zu ihm schauen.
Sie liessen sich anstecken, von der Freude, wegzugehen. Bald fanden sie es zwar genug; sie verstanden nicht, worum es ging, meinten, das kleine Fährtchen sei das Ziel, und nicht die Welt. Schliesslich, auf dem Rosenberg, dort wo man Hettlingen sieht, sprangen sie vom Wagen, und riefen, es gelte umzukehren.
Aber der Junge dachte nicht daran, zu gehorchen. Er verstand, dass bisher alle Strassen irgendwohin geführt hatten, aber nicht, so wie diese, die da gerade vor ihm lag, in die Welt hinein. Er konnte nicht wissen, dass es nie mehr eine solche Strasse in seinem Leben geben würde, dass dies seine Strasse in die Welt sein und bleiben müsse. Aber er handelte so, wie wenn er es wüsste. Schon bald hörte er die vom Wagen gesprungenen Schwesten nicht mehr; musste nicht mehr entscheiden, ob sie drohend, ängstlich oder spöttisch riefen; da sass er nun und sah die hereinfallende Nacht über der Ebene, das dunkle Dorf mit dem Kirchturm, die wenigen Lichter; sah die Welt und fürchtete sich nicht, weil die Dunkelheit ihm freundlich schien, und die schwarze Nacht leuchtete wie Sicherheit. Er fürchtete nichts als den Spott der andern Kinder, wenn er aufgegeben hätte, und sagte kein Wort, als der Bauer ihn fragte: Wie lange willst du denn mitfahren?

Als er im Dorf vom Wagen sprang, hat ihn der Bauer nicht mehr gesehen. Zwei oder drei Kilometer ging er dann, den geraden Weg nach Süden, nach Hause, in stockdunkler, winterlicher Nacht. Allein musste er nun zurück, bis zum Schützenweiher, wo die Schwestern, verzweifelt, weil sie ohne ihn nicht heimzugehen wagten, an der Strasse standen.
Der Weg in die Welt ist der Weg, auf dem man ohne Angst und allein in der Dunkelheit zurückkehren kann. Denn wer diesen Weg gefunden hat, ist wissend geworden, und kann sich nicht mehr verlieren oder hetzen lassen.
Der Junge wurde nicht müde an diesem Abend, und noch die halbe Nacht konnte er nicht schlafen. Er wusste, dass die ganze Welt seine Welt war, und dass er überall auf ihr zuhause sein würde, auch wenn das niemand verstand.


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