www.samisdat-dejung.ch  
Paul Grüninger
1891 - 1972

Mein Lebenslauf (1954)

Aus einem Beitrag zu einem Gedenkbuch der Schulkameraden:
Ich kam am 27. Oktober 1891 in St. Gallen an der Brunnenbergstr. 1 als Kind des Tapezierermeisters (später aber eines Zigarrengeschäftes) Oskar Grüninger und seiner Frau Maria, geb. Forrer, zur Welt. Vom Mai 1898 bis zum April 1904 besuchte ich die Primarschulklassen 1-6 im Graben- und im St. Leonhardschulhaus. Anschließend trat ich für 3 Jahre in die Realschule Bürgli ein und bestand dann die Aufnahmeprüfung ins Lehrerseminar Mariaberg Rorschach.

Sowohl in der Primar-, als auch in der Realschule hatte ich große Mühe im Lernen, aber auch keine besondere Freude daran, so dass ich bei mehr Fleiß auch bedeutend mehr hätte leisten können. Das »Tschutten« und Turnen, überhaupt jede sportliche Betätigung, sagten mir weit besser zu. Wieso ich dazu kam, mich für den Lehrerberuf zu entschließen, ist mir heute noch unerklärlich!

Von 1907 bis zum Frühjahr 1911 durchlief ich die 4 Klassen des Seminars mit recht gutem Erfolge und erwarb mir am 7. April 1911 das st.gallische Primarlehrerpatent mit der Durchschnittsnote 1,4.

Meine erste Lehrstelle versah ich vom Mai 1911 bis August 1913 in Räfis-Buchs, wo ich die 3.-5. Klasse unterrichtete. Alsdann wurde ich an die Oberschule von evang. Au St. Gallen berufen. Mit großer Freude und voller Hingabe widmete ich mich hier bis zum September 1919 der Jugenderziehung. Dabei erzielte ich schöne Erfolge und bin heute noch stolz auf die Bemerkung im bezirksschulrätlichen Visitationsbericht über das Schuljahr 1918/19: »Herr Grüninger ist nicht Schulmeister, sondern darf füglich als Meister der Schule bezeichnet werden und verdient das beste Zeugnis.«

Im Sommer 1911 absolvierte ich die Rekrutenschule der Verpflegungstruppen in Thun. 1912 daselbst die Unteroffiziersschule und, als mir das Abverdienen des Korporalsgrades in einer weiteren Rekrutenschule erlassen wurde, anschließend die Offiziersschule in Liestal. Auf den 31. 12 1912 erfolgte meine Ernennung zum Leutnant der Verpflegungstruppen.

Einzig und allein wegen finanzieller Besserstellung bewarb ich mich im Sept. 1919 um die Stelle des Polizeikommandanten des Kantons St. Gallen. Die Wahl des Regierungsrates fiel denn auch auf mich. Bereits im Herbst 1925 wurde ich mit dem Hauptmannsgrad ausgezeichnet und stand nun als Kommandant dem Polizeikorps des Kantons vor. Als Schullehrer hatte ich in der Au die hübsche Tochter des Kaufmanns Federer und Enkelin des Lehrers und Gemeinderatsschreibers von Bernegg kennengelernt. Nachdem ich mich als Polizeileutnant eingearbeitet hatte, brachte ich sie als Frau heim. Unserer glücklichen Ehe verdanken wir zwei Töchter.
Mit größter Begeisterung versah ich meinen Dienst und lehnte selbst bessere Stellenangebote als Departementssekretär und als Strafanstaltsdirektor rundweg ab. Die Bekämpfung des Verbrechertums mit den modernsten Fahndungsmitteln und die Heranbildung befähigter Polizeiorgane, wie deren Wohlergehen, lagen mir mehr am Herzen.

In frühzeitiger Erkennung der großen Gefahr der aufkommenden Motorisierung des Verkehrs, widmete ich mich als einer der Ersten schon 1934/35 der praktischen Verkehrserziehung in den Schulen des Heimatkantons und der übrigen Schweiz. Daneben fand ich, nie müde werdend, fortwährend neue, interessante Probleme zu lösen. Als langjähriger Präsident des schweiz. Polizeihundeführervereins schenkte ich der Ausbildung von Polizeihunden meine besondere Aufmerksamkeit, wobei ich im Zentralvorstand des schweizerischen, wie als Präsident des st.gallischen Tierschutzvereins großen Wert auf liebevolle, tierschützlerisch einwandfreie Dressur legte.

Von 1935-39 stellte ich mich meinem Vaterlande auch als Inspektor des passiven Luftschutzes zur Verfügung. Zur beruflichen Weiterbildung nahm ich an verschiedenen Instruktionskursen in der Schweiz, sowie am internationalen Polizeikongressen in Berlin, Brüssel und Paris teil.

Wir alle kennen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des deutschen Nationalsozialismus, unseren Frontenfrühling, wie die verschiedenen heimlichen und unheimlichen Organisationen der sogenannten 5. Kolonne im eigenen Land. Im gereiften Alter stehend haben wir konservativ, wachsam und kritisch auch die verzwickte internationale Politik verfolgt, die - was uns allen klar war, unweigerlich zum 2. Weltkrieg führen musste. Diese Zeiten zunehmender Spannungen brachten mir besondere Aufgaben.

In meiner Eigenschaft als Polizeioffizier lernte ich verschiedene hochstehende Persönlichkeiten kennen, z.B. König Carol mit Familie aus Rumänien, Außenminister Titulescu, Kronprinz von Japan mit Gemahlin, Prince of Wales, Juliana, Königin der Niederlande, Dr. Dollfuss, österreichischer Bundeskanzler, Dr. Schuschnigg, Dr. Ender, Dr. Viktorin, Sicherheitsdirektor von Vorarlberg und General Philippe Pétain, Feldmarschall. Zu mehreren von ihnen entwickelten sich aus dem dienstlichen Kontakt freundschaftliche, ja herzliche Beziehungen.

Der Besetzung Oesterreichs durch die Hitler-Armee im Februar 1938 folgte automatisch die verbrecherische Verfolgung und Vernichtung auch der österreichischen Juden. Der Zustrom jüdischer Flüchtlinge, die völlig mittellos und verwahrlost über den Rhein in den Kanton St. Gallen gelangten, wurde täglich größer. Da war es einerseits nicht zu verwundern, wenn Bundesrat und Kantonsregierung des strikten Befehl herausgaben, diese rücksichtslos wieder über die Grenze zurückzuschieben. Andrerseits hatte ich die Auffassung, dass es vielmehr Pflicht und Tradition der Schweiz sei, solchen Leuten, die der Willkür ihrer Verfolger, ja größtenteils sogar dem Tode geweiht waren, Asylrecht zu gewähren. Als verantwortlicher, mitfühlender Mensch konnte ich viele der durch solche Zurückweisungen entstandenen Jammerszenen nicht mitansehen und gestattete auf eigene Verantwortung über 2000 Flüchtlingen hier zu bleiben, ließ sie in Flüchtlingslagern unterbringen und übergab sie der Fürsorge ihrer schweizerischen Glaubensgenossen.

Auf Veranlassung meines Chefs, Regierungsrat Valentin Keel (soz.), gegen den selbst eine administrative Untersuchung wegen Begünstigung von politischen (sozialdemokratischen) Flüchtlingen lief, wurde gegen mich Strafklage, wegen Nichtbeachtung von bundesrätlichen und kantonalen Weisungen über die Behandlung von Flüchtlingen, erhoben. Die ganze Flüchtlingsangelegenheit ging nun über meine Person. Regierungsrat Keel kam mit einem blauen Auge davon, mich aber verurteilte das Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtspflichtverletzung zu einer Buße von Fr. 300.- und den Kosten, was meine sofortige Entlassung als Polizeihauptmann zur Folge hatte.

Allerdings schäme ich mich dieser Verurteilung nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, vielen Hunderten von schwer Bedrängten das Leben gerettet zu haben! Meine Hilfeleistung an die Juden war begründet in meiner christlichen Weltauffassung! Die Politik ist die Kunst des Möglichen. Zu oft weicht das Recht dem Druck der Macht.

Seither habe ich mich als Vertreter und Selbständigerwerbender mit wechselndem Erfolge betätigt, und wenn ich mich auch öfters in äußerst bedrängter Notlage befand, so fand ich den Ausweg doch immer wieder. Ich erfuhr Gottes Hilfe in reichem Maße.





Literatur:

»Hommages«



zurück zur Stammseite der Häresiologie


weiter zur nächsten Seite